2019 Admont (AT)
Professor ThDr. Juraj Bándy
Das Buch Jona als satirische Novelle
(Ein Prophet, der nicht predigen wollte)
Einleitung
Ich habe das Buch Jona deswegen zum Thema der heutigen Vorlesung gewählt, weil dieses Buch im Vergleich zu den anderen prophetischen Büchern „aus der Reihe tanzt“. In allen anderen prophetischen Büchern befinden sich vor allem die Reden der Propheten. In diesem Buch haben wir eine Erzählung, eine Geschichte. Der Prophet ist auffällig wortkarg. Die mündlichen Äußerungen Jonas beschränken sich auf folgende wenige Verse: „Ich bin ein Hebräer und fürchte den Herrn, den Gott des Himmels, der das Meer und das Trockene gemacht hat“ (1,9); „Nehmt mich und werft mich ins Meer, so wird das Meer still werden und von euch ablassen. Denn ich weiß, dass um meinetwillen dies große Ungewitter über euch gekommen ist“ (1,12). Jonas Gebet (2,3-10). Vielleicht geht es hier um eine spätere Ergänzung. „Es sind noch vierzig Tage, so wird Ninive untergehen“ (3,4); „Ach, Herr, das ist´s ja, was ich dachte, als ich noch in meinem Lande war, weshalb ich auch eilends nach Tarsis fliehen wollte; denn ich wusste, dass du gnädig, barmherzig, langmütig und von großer Güte bist und lässt dich des Übels gereuen. So nimm nun, Herr, meine Seele von mir; denn ich möchte lieber tot sein als leben“ (4,2-3); „Ich möchte lieber tot sein als leben“ (4,8); „Mit Recht zürne ich bis an den Tod“ (4,9). Jona redet mit den Matrosen (1,9.12), betet zu Gott (2,3-10), predigt den Einwohnern von Ninive (3,4) und streitet mit Gott (4,8.9). Für das Gottesvolk hat er kein Wort. Das Buch ist aber für das Volk Gottes bestimmt. Was will dieses Büchlein dem nicht direkt angeredeten Volk Gottes indirekt sagen? Welche Kenntnisse könnte ein „durchschnittlicher“ oder „geläufiger“ erwachsener Christ aus diesem Buch gewinnen? Am wahrscheinlichsten hörte er davon, dass anno dazumal ein großer Fisch einen gewissen Propheten Jona verschluckte. In den Religionslehrbüchern kommt die Geschichte des Propheten Jona unter den kleinen Propheten souverän am häufigsten vor. Auch für die Kinder und für die Konfirmanden ist Jona der bekannteste „kleine“ Prophet, bzw. die Geschichte von Jona ist die bekannteste Prophetengeschichte. Es klingt zwar optimistisch, dass Jona unter den Kirchenmitgliedern relativ bekannt ist, aber ich fürchte, dass sich die Kenntnisse auf den Fisch beschränken, bzw. der Fisch im Vordergrund steht. Daraus ergibt sich, dass diejenigen, die es für glaubwürdig halten, dass jemand drei Tage im Bauche eines Fisches lebendig aushalten kann, die Frommen sind, und diejenigen, die es bezweifeln, die Liberalen oder die Gottlosen sind. Übrigens äußerte sich auch Luther über diesem Problem so: „Wer wolts auch gleuben und nicht fur eine lügen und meerlin halten, wo es nicht ynn der Schrift stünde.1 Ich bitte diejenigen unter den Anwesenden, die glauben, dass es tatsächlich im Buch Jona um ein sich abgespielt habendes Ereignis geht, sich nicht mit der fides historica begnügen, sondern ihre Aufmerksamkeit auf die Botschaft des Buches richten. Ebenso bitte ich diejenigen unter den Anwesenden, die der Ansicht sind, dass es hier um eine literarische Fiktion, also um eine ausgedachte Geschichte geht, dass sie die Botschaft, die diese Geschichte transportiert, ernst nehmen. Im Buch Jona geht es nämlich nicht (vor allem) um einen Fisch.
Die literarische Gattung des Buches
Meines Erachtens ist es vor allem wichtig, die literarische Gattung des Buches zu bestimmen. Wenn wir die harte Nuss der Frage nach der Gattung knacken, können wir leichter zum Kern der Botschaft des Buches vordringen. In der Geschichte der Auslegung finden wir bei der Untersuchung der Gattung des Buches diese alternativen Lösungen: Prophetische Biographie, didaktisches Werk, allegorische Erzählung, prophetischer Midrasch, Novelle, prophetische Geschichte, Parabel, didaktische Legende. H. W. Wolff vertritt die Ansicht, dass es hier um eine Satire geht.2 Seiner Meinung nach ist Jona weder ein positiver noch ein negativer Held, sondern eine Karikatur (er will dreimal sterben). Ich teile diese Ansicht. Es geht also um ein humoristisches oder humorvolles Buch. Wenn diese Meinung richtig ist, dann müssen wir fragen: Was sucht ein humorvolles Buch in der Bibel? Wenn Gott „manchmal und auf mancherlei Weise geredet hat (Hebr 1,1), könnte er uns doch auch durch Humor etwas zu verstehen geben! Bevor wir die Botschaft des Buches zu verstehen versuchen, ist es wichtig, die ersten Adressaten des Buches unter die Lupe zu nehmen. Welche Kreise des Gottesvolkes sind im Buch Jona angeredet? Welche Art der Frömmigkeit wird hier kritisiert? Es geht um solche Leute, die nicht begreifen können, wie Jahwe zugleich ein strenger Richter über die Feinde Israels und auch ein gnädiger Gott sein kann, dessen Gnade alles überragt. Solche Leute sind angeredet, die nicht begreifen können, warum Jahwe Ninive nicht längst bestraft hat. Ninive ist eine Chiffre für den aktuellen Gegner. Es sind also solche Leute angeredet, die sich zu der früheren prophetischen Unheilsverkündigung skeptisch verhalten, wie wir in Jes 5,19; Ez 12,22; Zef 1, 12c und Mal 2,17 hören können. Solche Leute sind angeredet, die meinen, dass es Unsinn sei, unter solchen Umständen Gott zu dienen. Solche Leute sind angeredet, die nicht zulassen können, dass auch die Heiden Gottes Kinder sind. Alle diese skizzierten Ansichten können wir in der nachexilischen Gemeinde vermuten.
Satirische Momente im Buch Jona
Betrachten wir also das Buch Jona als eine satirische Novelle und versuchen wir, zu seiner Botschaft durchzudringen.
Die erste groteske Szene befindet sich sofort in der Einleitung des Buches. Sofort nach dem Befehl, nach Ninive zu gehen, geht Jona mit Eile in die Gegenrichtung nach Tarschisch. Die Tätigkeit Jonas ist mit fünf narrativen Verben (q-v-m; j-r-d; m-c-´; n-t-n; j-r-d) ausgedrückt. Sein Vorhaben drücken zwei Inf.-cstr.-Formen aus (liberóach; lábó´). H. W. Wolff fragt: „Wirkt nicht die übereifrige Aktivität Jonas in V. 3 nahezu lächerlich, zumal seine Absicht nach seiner eigenen Kenntnis (1, 9!) aussichtlos ist?“3 Jonas Tätigkeit gleicht dem beschleunigten Film. Der groteske Zug der Szene ist deutlich. Jonas Tätigkeit ist nicht nur deswegen im Gegensatz zu dem Willen Gottes, weil er in die Gegenrichtung fährt, sondern auch deswegen, weil er wortlos handelt, obwohl er die Aufgabe bekam zu reden (q-r-´ – V. 2).
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Den zweiten humorvollen Zug können wir in dem Moment beobachten, da das Schiff wegen Jona ins Gewitter hineingerät. Alle Reisenden beten zu ihren Göttern, bzw. Götzen, aber sind auch tätig. Sie tun das, was das Vernünftigste ist. Sie werfen alles hinaus, was nicht unentbehrlich ist, damit sie das Schiff erleichtern. Jona verhält sich ganz anders. Er betet nicht, und er arbeitet nicht, aber er schläft. Vielleicht weist sein Schlaf darauf, dass er später streben will. Der Kontrast des schlafenden Jona einerseits und der fast verzweifelt aktiven Matrosen anderseits ist eine scharfe Satire.
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Der nächste satirische Moment befindet sich in der Anrede des Kapitäns an Jona. Der Kapitän tadelt ihn zuerst, dass er ein „Siebenschäfer“ (nirdám) sei, dann fordert er ihn auf, auch zu beten. In dem Befehl des Kapitäns – qúm qerá´ – hören wir das Echo des Befehls Gottes aus dem Vers 2. Der heidnische Kapitän muss den Diener Gottes zum Gebet locken.
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Einen ironischen Unterton haben wir auch im Gebet der Matrosen (1,14), damit sie nicht für die Tötung eines unschuldigen Menschen (dám náqí´) zur Verantwortung gezogen werden. Das Erwähnen des unschuldigen Blutes könnte bedeuten, dass die Matrosen auch damit rechnen, dass Jona nicht die Wahrheit spricht.
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Wir können nicht den ironischen Moment übersehen, dass Jona nach drei Tagen und drei Nächten im Bauch des Fisches „wie etwas ganz Unverträgliches an Land gespuckt“ wird. 4
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Wenn wir die Angabe in 2,1 wortwörtlich nehmen, dann hat der Fisch im Laufe von drei Tagen und Nächten dieselbe Strecke wie das Schiff von Joppe zum hohen Meer absolviert. Für diese Reise – im Gegensatz zur Reisekarte nach Tarschisch – musste Jona nicht zahlen. Gott hat ihn gratis zum Ausgangspunkt gebracht. Wieder ein humorvolles Motiv.
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Die Beschreibung der Buße in Ninive, besonders das Tun des Königs, der seinen Untertanen ein Beispiel gibt (3,6-9) ist eine Anspielung an das Tun des Königs Jehojakim und der Bewohner von Jerusalem, welches in Jer 36 beschrieben wird.
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Nachdem die Bewohner von Ninive die Botschaft Jonas mit Glauben und Buße angenommen haben, sind sie dem Zorn Gottes entkommen (3,10). Nur hier und in Jer 18,7ff ist der Gedanke ausgedrückt, dass auch die Heiden die Möglichkeit haben, nach Annahme des Gerichtes Gottes und nach Buße dem Zorn Gottes zu entkommen. Dieses theologische Dreieck, d. h. die Annahme des Gerichts – Buße – die Rücknahme des Gerichts, von welchem Jeremia nur allgemein gesprochen hat, verwirklicht sich in diesem Fall. „In manches Israeliten Ohren muss es wie bitterer Hohn klingen, dass damit der letzte Vorzug Israels hinfällt.“5
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Nachdem sich Gott Ninives erbarmt hat, betet Jona im Zorn. In seinem Gebet zitiert er die Heilige Schrift. Er zählt die Eigenschaften Gottes nach Ex 34,6-7 und Joel 2,13 auf. Gott ist barmherzig (channún), gnädig (rachúm), geduldig, von großer Gnade (rab-chesed) und Treue und es gereut ihm die Strafe bald (nichám ´al-hárá´á). Diese Eigenschaften des Herrn, die im Kultus zu seinem Lob aufgezählt werden (z. B. Ps 86,15; 103,8), wenden sich jetzt zum Vorwurf. Jona begründet seinen Zorn damit, dass Gott die Eigenschaften hat, die er eben aufgezählt hat. Wieder ein ironisches Moment.
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Nach dem großen Zorn über die Rettung Ninives (4,1) wird Jona vor Freude ergriffen, als wunderhaft eine Pflanze aufwächst, die dem Propheten Schatten gibt. Es wirkt ironisch, dass der Wüterich sich freut, wenn es ihm ein wenig besser geht. Jona freut sich, „weil Gott zu ihm gut ist. Die Güte, die Gott den Menschen in Ninive erwies, macht ihn nur zornig.“6 Wir haben hier wieder ein ironisches Motiv: die radikale Änderung der Laune des Propheten ist von einem klein bisschen Bequemlichkeit bewirkt.
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Als Grund der Barmherzlichkeit Gottes zu den Bewohnern von Ninive wird ihre Unfähigkeit zu moralischem Urteil angegeben (4,11). Sie wissen nicht, zwischen rechts und links zu unterscheiden. Es geht nicht um kleine Kinder, weil das Subjekt des Hauptsatzes ´ádám ist. Es geht also um Erwachsene, die nicht moralisch urteilen können. Es geht auch hier um ein ironischen Moment: „Was für Jona zu verachten geneigt ist, wird für Jahwe ein Grund mehr zum Mitleid.“7 Mit der Äußerung, dass die Leute von Ninive nicht zwischen rechts und links unterscheiden können, wird ausgedrückt, dass „Gott kleinere Schwierigkeiten mit einer heidnischen Großstadt hat, als mit einem einzigen Menschen, der zwar ihn kennt, aber hartköpfig ist.“8
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Auf die letzte Frage Gottes – „Und ich dürfte nicht Mitleid haben mit Ninive?“ – antwortet Jona nicht. Unabhängig davon, was er geantwortet hätte, müsste er immer Gott Recht geben. Wenn er gesagt hätte „Ja, Herr, du sollst mit Ninive Mitleid haben, weil ich auch mit der Rizinusstaude Mitleid habe“, hieße die Antwort Gottes so: „Warum bist du dann zornig und warum willst du sterben?“ Wenn er gesagt hätte: „Nein, du sollst nicht mit Ninive Mitleid haben. Bestrafe sie, weil sie Sünder sind.“, hieße die Antwort Gottes so: „Gut, aber ich bestrafe zuerst dich, weil du ungehorsam gewesen bist.“ Unabhängig von der Antwort hätte Gott Jona beim Wort gefangen. Die letzte Frage richtet sich nicht an Jona, sondern „an das Volk Gottes, das seine Stellung zum Mitleid Gottes zu den Heiden auszudrücken hat.“9
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Luthers Auslegung des Buches Jona
Luthers reformatorische Ansichten wurden allmählich in seinen Werken „An die christliche Adel“, „Von der babylonischen Gefangenschaft“ und „Von der Freiheit eines Christenmenschen“, die er im Jahr 1520 verfasst hat, herauskristallisiert. Daraus ergibt sich, dass wir im Jahr 1526, als er das Buch Jona ausgelegt hat, vor uns schon einen ausgereiften Reformator haben, der die harten Proben des Reichstages in Worms (1521) und des Bauernkrieges (1525) bestanden hatte. In seiner Auslegung können wir die Hauptzüge seiner Benutzung der Heiligen Schrift und seiner reformatorischen Theologie deutlich erkennen. Bemerkenswert ist seine philologische Argumentationsweise. Er analysiert in 1, 3 den Inhalt der Begriffe jam und tarschisch und ihr gegenseitiges Verhältnis. Richtig beobachtete er, dass das Wort ak (nur) in 2, 5 für ek (wie) zu ändern sei. Aufgrund der philologischen Analyse hat er richtig bestimmt, dass das Suffix des Wortes chesed in 2, 9 sich auf sein Objekt bezieht. Er widmet sich ausführlich den Möglichkeiten der Übersetzung des Wortes qiqajon, das sich in 4, 6 befindet. Luther zeigt sich als sachlicher und nüchterner Exeget, wenn er die Fragen offen lässt, die der Text nicht beantwortet oder gar nicht stellt. Deswegen stellt er auch nicht die Frage, warum wollte Jona flüchten (1, 3). Er fragt nicht, ob Jona in 1, 6 betete oder nicht. Er will nicht das Problem lösen, ob es in 3, 3 um das Ausmaß der Stadt Ninive oder um die Länge der dortigen Straßen geht. Er spekuliert nicht über die Unveränderbarkeit Gottes bei der Auslegung des Verses 3, 9, wo darüber geredet wird, dass Gott seine Entscheidung über die Zerstörung Ninives ändern kann. Er lässt auch die Frage über die Bedeutung des Wortes qiqajon offen, obwohl er die Übersetzung „wilde rube“ präferieren lässt. Die einzige psychologische Auslegung (wenn wir zu streng wären, würden wir Eisegese sagen) befindet sich nur bei der Auslegung von 1, 7, wo Luther darüber überlegt, wie sich Jona fühlen könnte, als das Loswerfen begann. Luthers Übersetzungstechnik verdient große Anerkennung. Im Zusammenhang mit den ungewöhnlichen hebräischen Wortverbindungen in 3, 8 betont er, dass diese Wortverbindungen nicht wortwörtlich, sondern dem Sinn nach zu übersetzen seien. Als Beispiel kann man 2, 6 nennen, wo er das Wort nefesch nicht automatisch als „Seele“ übersetzt. Luthers kanonische Sichtweise bei der Exegese wirkt modern. Als Beispiel kann man den Vergleich des Ungehorsams Jonas (1, 5) mit dem Ungehorsam von Adam, Saul und den israelitischen Könige erwähnen. Als nächstes Beispiel kann man die Darstellung des Königs von Ninive als Gegenpol von Sodoma und Gomorra, von dem Pharao in dem Zeitalter Moses und von Jerusalem in dem Zeitalter Jesu nennen. Zu diesen negativen Beispielen fügt er Rom im Zeitalter der ersten Christen und die Fürsten und die Bischöfe in seiner Zeit zu. Luther zeigt sich als Reformator auch in dem freien Zutritt zur kirchlichen Tradition bei der Frage, ob Jona der Sohn der Witwe von Sarepta war und bei den Vorstellungen über der Hölle im Zusammenhang mit dem Gebet Jonas (2, 3). Als Beispiel der christologischen Auslegung kann man Luthers Beobachtung zum Titel des Buches nennen, wo sich das Wort dabar befindet. Nach Luthers Meinung geht es um den Logos, den man mit Christus identifizieren kann. Für die Theologie Luthers ist typisch die Akzentuierung der Macht des Wortes Gottes. Nach seiner Meinung ist das Vorkommen des Wortes dabar in dem Titel des Buches ein Beweis dafür, dass Gott zuerst immer sein Wort sendet und erst danach () zu handeln beginnt. Auch in dem Befehl Gottes dem Fisch (2, 1) und in seiner Anrede (2, 10) sieht er ein Beweis dafür, dass jede Tat Gottes mit einem Wort beginnt, bzw. ein Wort geht ihr voraus. Luther greift nur einmal bei der Auslegung des Buches Jona zur allegorischen Exegese. Nach seiner Meinung sind an der Pflanze, die keine Früchte trägt, „die bletter …… die wort und gotts gesetze.“10 Dann vergleicht er diese Pflanze mit dem Feigenbaum, an welchem Christus keine Früchte fand (Mt 21, 19) und setzt fort: „Christus ist eyn wurm, wie er sagt Psal. XXI. Ich bin eyn wurm und nicht eyn mensch.“11: Dann setzt er folgendermaßen fort: „Das ist, wie S. Paulus Ro XI. sagt: Aus der Juden verderben kompt der heyden heilI.“12 Richtig hat Luther erkannt, dass die 120 tausend Einwohner von Ninive, die nicht wissen, was rechts oder links ist, keine kleinen Kinder sind, sondern es geht um die Unfähigkeit der Erwachsenen zum sittlichen Urteil. Die Ursache sieht Luther darin, dass „sie wußten dis noch das ynn göttlichen sachen, als die keyn gesetz Mosi noch Propheten hatten, wilche sie hetten geleret, wie sie sollten beyde ynn geystlichen und leyblichen, ynn euserlichen und ynnerlichen dingen für Gott sich halten, wie die Juden hatten“13 Das reformatorische Prinzip sola fide zeigt sich darin, dass Luther den Glauben der heidnischen Matrosen (1, 16) und die Buße der Bewohner von Ninive (3, 1ff) sehr hoch schätzt. Bei der Auslegung von 3, 5 vergisst Luther nicht zu unterstreichen, dass es um einen Glauben ohne Beschneidung und ohne Werke des Gesetzes geht. Daraus macht er diese Konklusion: „Denn hyraus mügen wyr gewaltiglich schließen, das die beschneyttung und Moses gesetze nicht not sey dazu, das man frumm sey und Gott gefalle.“14 Bei der Auslegung von 3, 10, wo der Eindruck entstehen könnte, dass die Bewohner von Ninive für ihre gute Werke dem Gericht Gottes entkommen sind, betont Luther, dass es um die Werke des Glaubens geht.15 Das nächste reformatorische Prinzip sola gratia kommt zum Wort bei der Auslegung von 2, 9 im Jonas Gebet. Nach Luther „Jona strafft mit disem vers die unversendigen werckheiligen und heuchler, die nicht auff gotts gnade alleine, sondern auff yhr eigen werck trauen.“16 Bei der Auslegung von 3, 3 fragt Luther: „Warumb heyst er Ninive eyne stad gottes? War doch daselbst nicht der gotts dienst, tempel odder propheten. Ich halt, sie heysse darumb also, das sich yhr Gott so an nympt und nicht verderben will, sondern sorget fur sie, schickt yhr eynen Propheten, auff das er yhr schone.“17 Auch im Zusammenhang mit den Eigenschaften Gottes, die in 4, 2 aufgezählt sind, sagt Luther: „ Sollten werck bey Gott gelten odder entgelten, so müste Jona hie ynn abgrund der hellen fahren.“18 Bemerkenswert sind auch die allgemeinen theologischen Überlegungen über Themen, zu denen der ausgelegte Text (im Klammer) Anlass gibt. Luther diskutiert nach und nach über das Wesen der Sünde (1, 5 – 6), über die Grenzen und Möglichkeiten der Grenzen der natürlichen Vernunft (1, 5), ob das Losen erlaubt oder verboten ist (1, 7), über den Glauben aus reinem Herzen (1, 11), über die Macht des Gebets (2, 3 – 10), über die Hölle (2, 3), über den Zusammenhalt des kirchlichen Amtes und des Wortes Gottes (3, 1) und über das Wort Gottes (3, 4). Luthers theologische Reife in der Auslegung des Buches Jona zeigt sich in dem freien Zugang zur kirchlichen Tradition, in tiefer Kenntnis der hebräischen Sprache und in der Durchsetzung der reformatorischen Prinzipien in der Exegese und in der Aktualisierung der Botschaft des biblischen Textes.
Túróczys Auslegung des Buches Jona
Zoltán Túróczy (1893 – 1971) war Bischof des Tiszaer Distrikts der Evangelischen Kirche in Ungarn von 1939 bis 1945. Nach dem Krieg wurde er als Kriegsverbrecher vom Volksgericht zu 10 Jahren Haft verurteilt, aber schon im Jahr 1948 wurde er freigelassen. Im Jahr 1948 wurde er zum Bischof des Transdanubiansichen Distrikts gewählt, aber schon im Jahr 1952 zwangen ihn die Kommunisten in den Ruhestand. Nach dem Aufstand im Jahr 1956 wurde er wieder in sein Amt zurückgesetzt, aber schon im Jahr 1957 musste er sein Amt niederlegen. Er lebte in Györ (Raab) als Rentner bis zu seinem Tode im Jahr 1971. Im Oktober 1943 fand eine Evangelisation in Nyíregyháza statt. Túróczy hielt dort eine Vorlesungsreihe über Das Buch Jona. 19Mit prophetischer Hellsicht sah er in diesen Vorlesungen die Schwierigkeiten, die auf das Christentum in der Nachkriegszeit lauern werden. Über diese Vorlesungen möchte ich jetzt einen Überblick anbieten. Zuerst beschäftigt sich Túróczy mit isagogischen Fragen und kommt zur Überzeugung, dass es im Buch Jona um ein wirkliches Ereignis geht. U. a. argumentiert er so: Warum hätten die Juden „ein solches Gleichnis erdichtet, in welchem es nur einen jüdischen Akteur gibt, der am wenigsten sympathisch ist.“ 20 Er sieht im Buch Jona den Höhepunkt des Alten Testaments, weil es „das älteste missionarische Buch“ sei.21 Weiter konstatiert er, dass das Buch Jona von einem einzelnen Menschen berichtet. Der einzelne Mensch ist wichtig. „Ein einzelner Mensch, der gegenüber Gott gehorsam ist, kann Gottes Gericht aufhalten. Weg also mit der Feigheit!“22 Vergessen wir nicht, dass diese Worte in einer solchen Zeit erklangen, als die kollektivistischen Ideologien dominierten! In der nächsten Vorlesung widmet sich Bischof Túróczy der Person des Propheten. Er hält ihn von der menschlichen Perspektive für die Aufgabe, die er bekam, für sehr tauglich. Dann zählt er die Gründe auf, die den Propheten zum Ungehorsam trieben. „Jona hat keinen Mut zum offenen Ungehorsam, deswegen läuft er von der Aufgabe weg.“ „Sein Gewissen schläft nicht so sehr, damit er zu Hause bleiben könnte, aber ist nicht so wach, damit es ihm nach Ninive jagte.“23 „Die Fahrkarte ist gewiss teuer, aber er rechnet jetzt nicht. Ein Sünder rechnet nie, wieviel seine Leidenschaft kostet.“24 Dann fragt der Bischof: Sind wir nicht am Fluchtweg? und konstatiert. „Wenn der Diener Gottes nicht auf dem Weg Gottes schreitet, ist er kein Flüchtling, sondern ein Deserteur. Dem Flüchtling kommt offene Tür, liebendes Herz und Mitgefühl zu, dem Deserteur aber Kugel und Galgen.“25 Die dritte Vorlesung schildert, wie zwei Willen - der Wille Gottes und der Wille Jonas - aneinander stoßen. Gott stellt „gegen dem ungehorsamen Menschen einen unangenehmen Menschen“ und dann „bringt er einen ganzen Ozean in Bewegung, damit sich seine Wille durchsetze.“26 Über dem Hinauswurf Jonas ins Meer sagt Túróczy: „Ein Prophet wird manchmal auch von dort, wohin ihn Gott sendet, hinausgeworfen. Aber er wird immer von dort, wohin ihn Gott nicht sendet, hinausgeworfen werden.“27 In der vierten Vorlesung beschäftigt sich Bischof Túróczy mit dem Gericht Gottes. Das Verschlucken des Propheten durch dem Fisch „sieht nach Gottes Zorn aus, es ist aber seine Gnade.“28 Gottes Zorn wäre, wenn dem Prophet die Reise nach Tarschisch gelinge. Die fünfte Vorlesung trägt den Titel „Der Prediger der Erwachung“. Hier fasst der Autor die inhaltlichen Merkmale der Erweckungspredigt in diesen Punkten zusammen: 1. Der Prediger geht dorthin. wohin ihn Gott sendet. 2. Er geht zu jener Zeit, wenn ihn Gott sendet. 3. Er sagt das, was ihm Gott aufgetragen hat. 4. Was er sagt, ist ein Zeugnis. 5. Der theologische Inhalt seiner Predigt ist das Gesetz und das Evangelium. Die formalen Merkmale der Predigt Jonas fasst er so zusammen: 1. Er predigt unerschütterlich. 2. Er predigt klar. 3. Er predigt einfach. 4. Die Predigt ist seine persönliche Arbeit. 5. Er predigt unermüdlich. 6. Seine Predigt ist voll von Dringlichkeit. In der nächsten Vorlesung fasst Bischof Túróczy die Merkmale der Erweckung so zusammen: 1. Bei der Erweckung löst eine kleine Aktion eine große Reaktion aus. 2. Diese Reaktion ist immer allgemein. 3. Die allgemeine Reaktion zeigt sich nicht nur in horizontaler, sondern auch in vertikaler Richtung. 4. Die Erweckung beginnt immer mit der Buße. 5. Die Erweckungsbewegung bleibt nicht bei der Buße stehen. 6. Die Erweckungsbewegung bewegt sich zwar auf der sittlichen Ebene, aber sie ist eine Glaubensbewegung. 7. Die Erweckungsbewegung ist eine Bewegung der Hoffnung. Die vorletzte Vorlesung (über dem vierten Kapitel des Buches) beschäftigt sich mit der Geduld und der Liebe Gottes zum zornigen Propheten. Die letzte Vorlesung stellt die Frage nach der Fortsetzung der Jona-Geschichte, bzw. Ninive-Geschichte. Der Autor schließt die Vorlesungsreihe mit diesen Worten: „Wenn ich jetzt vor dem Buch Jona zusammengebrochen, gedemütigt und erschrocken stehe und eilend den Weg der Buße suche, beugt sich Gott zu mir mit seiner Liebe. Gott, von welchem ich weiß, dass er gnädig, barmherzig, langmütig und von großer Güte ist, der mich nicht deswegen zu diesem Dienst berufen hat, weil er mich verwerfen will, sondern deswegen, weil er mich retten will. Gott, du bist groß! Groß ist deine Liebe!“29
"Übersetzung" der narrativen Theologie
Das Buch Jona ist ein typisches Beispiel für die narrative Theologie. Versuchen wir nun die Geschichte (im Klammer stehen immer die entsprechenden Verse) in religiös-ethische Thesen zu „übersetzen“:
- Gott zu dienen, ist schwer und gefährlich, aber diesem Dienst auszuweichen, ist noch gefährlicher (1, 2 - 3).
- Die Flucht vor Gott kostet sehr viel (1, 3).
- Die Flucht vor Gott ist ein Weg bergab (Verb j-r-d von 1, 2 bis 2, 7).
- In Lebensgefahr zeigt sich, was wichtig ist und was abgeworfen werden kann (1, 5).
- Das Echo des Wortes Gottes kann auch ein solcher Mensch übermitteln, von dem es kaum zu erwarten ist (1, 6).
- Zum Aufwachen aus dem Schlaf der Sünde ist immer ein anderer Mensch notwendig (so Luther über 1, 6).
- Auch ein unglaubwürdiger Diener Gottes kann bei anderen Menschen Glauben erwecken (1, 9. 16).
- Der Mensch, der gegen den Willen Gottes handelt, bringt auch seine Mitmenschen in Gefahr (1, 12).
- Aufrichtig beten kann man auch mit „ausgeliehenen“ Worten (2, 3ff).
- Wenn wir unter Gottes Zorn und Strafe sind, müssen wir zum zürnenden und strafenden Gott flüchten. Gott gibt uns Antwort, wenn wir aus Not zu ihm schreien (so Luther über 2, 3).
- Mit dem, der mit Gott nicht reden will, kann Gott auch ohne Worte reden (1, 4ff Gewitter, 2, 1 Fisch, 4, 6ff Rizinusstaude, 4, 7 Wurm, 4, 8 Wind und Sonne).
- Auf dem Weg bergab kann der Mensch nicht haltmachen, wenn er will, sondern nur auf dem Grund (2, 7).
- Die Gnade Gottes besteht darin, dass dem Menschen ein Neubeginn, eine zweite Chance ermöglicht wird (3, 1).
- Gott kann den, der sich weigert, den Befehl auszuführen, zur Ausführung des Befehls zwingen (3, 2)
- Der Prediger muss haargenau das verkündigen, was ihm befohlen wurde (3, 2).
- Gott ist auch Gott der Heiden (3, 3).
- Auch fünf verständliche und konkrete Wörter, die auf Gottes Befehl verkündigt werden, können enorme Wirkung haben (3, 4).
- Auch ohne Gott immer zu erwähnen, kann man die Menschen zu Gott führen (3, 4).
- Wahre Bekehrung ist die Folge des Glaubens (3, 5ff).
- Die wahre Bekehrung besteht nicht nur aus Äußerlichkeiten, sondern auch aus innerlicher Wandlung (3, 8).
- Gott hat Geduld mit diejenigen, die seine Beschlüsse nicht verstehen und kritisieren (4, 1ff).
- Wenn wir für uns selbst die Gnade Gottes wünschen, dann gönnen wir sie auch den anderen (2, 7 und 4, 2).
- Wenn wir für die anderen das Gericht Gottes wünschen, seien wir dessen bewusst, dass vor allem wir es verdienen (4, 1 und 1, 3).
- Die Gnade Gottes gilt nicht nur dem auserwählten Volk, sondern auch den Heiden (4, 11).
Zusammenfassung
Ich teile die Meinung, dass es in diesem Buch um eine scharfe Kritik der nationalistisch, partikularistisch und xenophob deformierten Frömmigkeit der nachexilischen Gemeinde geht. Das Buch Jona zeigt auch, wie große Mühe es Jahwe kostet, den deformierten Glauben eines einzigen Israeliten in Ordnung zu bringen. Jahwe braucht aber nur eine minimale Mühe, die Bewohner von Ninive zum Umkehr zu bringen. Die deformierte Frömmigkeit Israels ist ein Hindernis für die Heiden, zur Gotteserkenntnis zu gelangen. Die Deformation des Glaubens ist vom Raum und von der Zeit unabhängig. Deswegen ist das Buch Jona auch für uns ein Spiegel, dem wir die Frage stellen sollen: „Spiegel, Spiegel, sag mir, ist etwa mein Glaube deformiert?“
Prof. ThDr. Juraj Bándy
Dr. Michael Bünker
Mit Freude evangelischer Pfarrer oder Pfarrerin in Europa sein
Vortrag bei der KEP Konferenz in Admont, 17. 6. 2019
Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Schwestern und Brüder, zuerst bedanke ich mich herzlich für die Einladung, zu Ihrer Konferenz hierher nach Admont zu kommen. Ich freue mich, dass Sie für Ihre Zusammenkunft diesmal Österreich gewählt haben. Danke auch für die Gelegenheit, mit Ihnen jetzt am Vormittag einige Überlegungen zum Pfarrberuf teilen zu können. Dabei soll es inhaltlich auch um Salutogenese und Resilienz gehen. Für diese Aufgabe mögen mich mehr meine eignen Erfahrungen qualifizieren als die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Pfarrberuf und den mit ihnen zusammenhängenden Disziplinen. Ich bin nach rund zwölf Jahren im Gemeindedienst als Pfarrer in die Kirchenleitung gewählt worden und habe aus dieser Perspektive, wenn auch nicht in der unmittelbaren Personalverantwortung, aber doch mittelbar die Fragen rund um den Pfarrberuf miterlebt und auch mitentschieden, wo immer es etwas zu entscheiden gab. In den letzten zwölf Jahren war ich als Bischof nach der Aufgabenbeschreibung unserer Kirchenverfassung zugleich auch als „erster Pfarrer der Kirche“ mit dem Hirtenamt über alle Amtsträger und Amtsträgerinnen in Seelsorge, Beratung und Mahnung betraut (Kirchenverfassung, Artikel 90 Absatz 1 Ziffer2). Während der Jahre im Bischofsamt war ich in ehrenamtlicher Funktion zugleich Generalsekretär der „Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE)“ und konnte so immer wieder einen Eindruck gewinnen von der Situation in den evangelischen Kirchen in anderen europäischen Ländern. Es gibt hier – bei aller innerevangelischen Pluralität – wenig überraschend ein großes Maß an Übereinstimmung und Ähnlichkeit, was die Herausforderungen für den Pfarrberuf heute angeht. Diese Funktionen gehen nun zu Ende und ich stehe vor dem nächsten Übergang im Leben eines Pfarrers oder einer Pfarrerin, nämlich dem Wechsel in den Ruhestand. Freilich höre ich damit nicht auf, Pfarrer zu sein. Die Ordination als wechselseitige Verpflichtung zwischen der Kirche und den Frauen und Männern, die in den Dienst der öffentlichen Verkündigung treten, gilt weiter. Aber an die Stelle des „Du musst“ tritt nun das „Du kannst“, also die grundsätzliche Freiwilligkeit, mit der Pfarrer im Ruhestand Aufgaben übernehmen können.
Aber beginnen möchte ich weder mit dem kirchenleitenden Amt noch mit der europäischen Aufgabe, sondern mit meiner persönlichen Geschichte. Ich stamme – wie nicht wenige der Pfarrer und Pfarrerinnen – aus einem evangelischen Pfarrhaus, ja ich bin sogar im Pfarrhaus geboren worden. Pfarrerskind zu sein wurde mir gleichsam in die Wiege gelegt. Mein Urgroßvater war der Sohn eines Schweizer Färbermeisters namens Jakob Bünker (1812-1888), der Mitte des 19. Jahrhunderts aus wirtschaftlichen Gründen aus der Schweiz nach Kärnten auswanderte. Sein Sohn Karl (1853-1919) studierte evangelische Theologie und übernahm eine Pfarrstelle in Kärnten, in Trebesing, einer Toleranzgemeinde. Toleranzgemeinden sind jene Gemeinden, die sich unmittelbar nach dem Toleranzpatent Kaiser Joseph II. im Jahr 1781 unter den vom Patent festgelegten Auflagen gebildet hatten. Sie sind bis heute so etwas wie das Fundament der Evangelischen Kirche in Österreich. In dieser Gemeinde war er mehr als vierzig Jahre lang tätig. Er hatte in eine angestammte Kärntner Pfarrerdynastie eingeheiratet, die unmittelbar nach dem Toleranzpatent aus dem fränkischen Raum nach Österreich gekommen war. Beide Söhne dieses ersten Pfarrers namens Bünker traten in die Fußstapfen ihres Vaters und wurden ebenfalls evangelische Pfarrer und zwar beide auch noch in Kärnten. Der jüngere von ihnen folgte dem Vater in der Gemeinde Trebesing nach und blieb selbst auch durch vierzig Jahre dort. Das war damals, also so zwischen 1880 und 1950, gar nicht so selten. Der ältere Sohn begann als Feldkurat kurz vor und dann während des Ersten Weltkrieges in der Armee der k. und k. Monarchie. Dieser Pfarrer Bünker (1888-1966), mein Großvater, übernahm nach dem Krieg die Pfarrgemeinde Fresach im Drautal in Kärnten, auch das eine der alten Toleranzgemeinden. Die Gemeinde Fresach hatte zur damaligen Zeit rund 2.100 Mitglieder, die verstreut auf den Bauernhöfen am Hang des Berges und in mehreren, recht weit voneinander entfernt liegenden Ortschaften lebten. Die Pfarrgemeinde hatte erst in den späten 1930er Jahren elektrischen Strom und gar erst nach dem Zweiten Weltkrieg einen Telefonanschluss. Dem Pfarrer oblag der regelmäßige Predigtdienst an allen Sonn- und Feiertagen, die Kasualien, von denen insbesondere die Beerdigungen aufwendig gewesen sein dürften, der Religionsunterricht und vor allem die Hausbesuche, die sich die Gemeindemitglieder regelmäßig erwarteten. Alle Wege waren zu Fuß zurückzulegen. Ein Gehalt in regelmäßiger Geldzahlung gab es nur zum Teil. In erster Linie wurden die staatlichen Aufgaben, wie der Religionsunterricht an den öffentlichen Schulen und die standesamtliche Funktion der Führung der Matrikelbücher, finanziell abgegolten. Einen wesentlichen Teil des Einkommens machten die Naturalabgaben aus, zu denen sich die Bauern der Gemeinde verpflichtet hatten und denen sie nicht selten sehr nachlässig nachkamen. Außerdem standen dem Pfarrer eine Kuh und mehrere Schweine, sowie ein Acker und ein großer Garten zur Verfügung, was ihn und seine Frau notwendigerweise zum Teilzeitlandwirt machte. Trotz dieser umfangreichen und vielfältigen Tätigkeit hatte Pfarrer Bünker Zeit, manche Ausfahrten zu unternehmen oder im Pfarrhaus Besuch für mehrere Tage aufzunehmen und insgesamt einen seinem bürgerlichen Milieu angemessenen Lebenswandel zu führen. Legendär in vielen Pfarrhäusern der damaligen Zeit waren die Runden, in denen das altösterreichische Kartenspiel „Tarock“ gepflegt wurde. Weil dieses Spiel besonders unter den Offizieren der alten k.und k. Armee verbreitet war und daher von Czernowitz/Chernivci bis Triest/Trieste und von Teschen/Cieszyn bis Kronstadt/Brasov gespielt wurde, nannte der österreichische Autor Fritz von Herzmanovsky-Orlando (1877-1954) einfach die ganze alte Donaumonarchie „Tarockanien“. Da dazu normalerweise vier Mitspielende gebraucht werden, bildeten sich Runden, die aus dem Dorflehrer, dem evangelischen Pfarrer und dessen Frau und dem katholischen Pfarrer am Ort gebildet wurden. Eine Tarock-Ökumene! Den Bauern war „Tarock“ unbekannt.
Die größte Leidenschaft meines Großvaters war aber das Veredeln und Aufziehen von Rosenstöcken, von denen bis zu hundert im Garten des Pfarrhauses standen. Während er also seine Bauernhöfe besuchte oder seine Rosen aufzog, studierte sein Sohn bereits evangelische Theologie. Das war mein Vater (1916-2001), der im Jahr 1940 seinen Dienst in der großen Gemeinde Leoben in der Steiermark begann. Leoben wurde erst 1902 als Pfarrgemeinde gegründet, hatte aber gegen Ende der 1930er Jahre bereits mehr als 6.000 Mitglieder. Das konnte von einem Pfarrer allein unmöglich bewältigt werden. Normalerweise waren zwei Pfarrer dort tätig, eine Diakonisse als Gemeindeschwester und einige Religionslehrende in den Schulen. Oft kamen für eine befristete Zeit Vikare dazu und unmittelbar nach 1945 aufgrund der starken Flüchtlingsströme auch der eine oder andere Flüchtlingspfarrer. Gottesdienste waren in der Leobener Gustav-Adolf-Kirche regelmäßig zu feiern und dazu an insgesamt sechs Predigtorten, von denen manche aufgrund der kriegsbedingt erschwerten Verkehrsbedingungen nur mit einer Übernachtung betreut werden konnten. Wöchentliche Bibelstunden, die Betreuung der am Ort ansässigen Hochschulgemeinde und ein reiches Vereinsleben kamen zu den zentralen pfarrerlichen Aufgaben dazu. Aber auch mein Vater hatte Zeit für manche Hobbies. Es wird erzählt von zahlreichen Ausflügen, von seiner schriftstellerischen Tätigkeit, von Besuchen und vom Abonnement im örtlichen Lichtspieltheater. Die Wege mussten mit öffentlichen Verkehrsmitteln, mit dem Fahrrad oder zu Fuß bewältigt werden, wenn es keine Mitfahrgelegenheiten gab. Das Autofahren und das Telefonieren hat mein Vater erst in den 1960er Jahren gelernt und wurde mit beidem nie so recht vertraut. Im Jahr 1954, kurz nach meiner Geburt im Leobener Pfarrhaus, übersiedelte die ganze, mittlerweile fünfköpfige Familie nach Kärnten. Dort war mein Vater noch in zwei Gemeinden tätig, ehe er im Jahr 1984 mit 68 Lebensjahren in Pension ging. Durch vier Jahre waren wir beide aktiv im Pfarrdienst, denn ich begann nach dem Ende des Studiums im Jahr 1980 als Vikar in Wien-Döbling und wurde dann 1982 zum Pfarrer in Wien-Floridsdorf gewählt. Die Gemeinde in Floridsdorf hatte damals rund 3.500 Mitglieder. Drei Pfarrer waren dort tätig, dazu eine Gemeindepädagogin und zahlreiche Religionslehrende an den öffentlichen Schulen. Das hat sich im Grunde bis heute nicht geändert, die Zahl der Mitglieder ist nur um wenig auf 3.280 im laufenden Jahr gesunken. Gottesdienste waren und sind wöchentlich in der Floridsdorfer Kirche sowie einmal im Monat an den vier Predigtorten zu feiern. Neben den Pfarrern standen dafür auch eine Reihe von Lektorinnen und Lektoren bereit. In der Gemeinde gab es eine ganze Reihe von thematisch oder zielgruppenorientiert bestimmten Kreisen. Unter den Kasualien stachen die zahlreichen Beerdigungen im Arbeitsaufwand heraus. Viel Energie erforderte die gute Begleitung der Ehrenamtlichen, die sich um die Diakonie in der Gemeinde, um die Seelsorge in Krankenhaus und Altenheimen, um die Begleitung der Jugendlichen, der Konfirmandinnen und Konfirmanden und um die zahlreichen Gemeindeveranstaltungen annahmen und das bis heute tun. Verwundert hat mich, wieso in dieser Gemeinde in der Zeit meines Großvaters bei wesentlich größerer geographischer Ausdehnung und mehr als 5.000 Mitgliedern ein Pfarrer und eine Gemeindeschwester ausgereicht haben? Die Veränderungen, die seit den 1960er Jahren eingesetzt haben und das kirchliche Leben in den Gemeinden in vielen Bereichen neu ausgerichtet haben, sind hier wohl als Hauptgründe zu nennen. Die lebendige Gemeindekirche, in der in zahlreichen Gruppen und Kreisen verschiedene Aktivitäten organisiert werden, hat neue Anforderungen an den Pfarrberuf mit sich gebracht. Ein äußeres Zeichen dafür ist die Tatsache, dass in zahlreichen Gemeinden zusätzlich zu Kirche und Pfarrhaus Gemeindehäuser oder andere Gemeinderäume gebaut wurden. Dazu kommt, dass in all diesen Bereichen zunehmend Professionalität verlangt wurde. Fort- und Weiterbildung wurden nicht nur für die Pfarrer und (mittlerweile auch) Pfarrerinnen und andere Hauptamtliche notwendig, sondern auch für die Ehrenamtlichen. Als weiteren inneren Faktor der Veränderung nenne ich die Anforderungen der Institution Kirche durch einen manchmal extrem gestiegenen Aufwand an Verwaltung und Organisation. Dazu kommt durch die zunehmende Individualisierung in der Gesellschaft der gestiegene Aufwand für die Planung und Durchführung der Kasualien, was sich am deutlichsten bei den kirchlichen Trauungen zeigt. Aber ähnliche Entwicklungen gab und gibt es nicht nur in der Kirche. Neu waren auch die grundsätzliche Infragestellung der traditionellen Rollenbilder von Männern und Frauen und die neue Bewertung von sogenannter Reproduktionsarbeit in Familie und Haushalt. Das sind nur ein paar willkürlich herausgegriffene Veränderungsfaktoren ohne Anspruch auf Systematik oder gar Vollständigkeit, die eben auch die Kirche und damit die pfarrerlichen Tätigkeiten betroffen haben. Aber: Die parochiale Versorgungs- und Betreuungskirche, für die mein Großvater und auch noch mein Vater tätig gewesen sind und die ihnen immer Zeit für eigene Tätigkeiten gelassen hatte, war durch diese Veränderungen nicht verschwunden. Im Gegenteil! Sie bestand ungebrochen weiter und tut das nach wie vor, sodass all die Änderungen, die ich nur kurz angedeutet habe, zusätzlich zur parochialen Tätigkeit in der Volkskirche wahrzunehmen sind.
Diese doppelte Herausforderung, einerseits das Überkommene fortzusetzen und so gut wie möglich zu sichern und andererseits für alle möglichen, auf jeden Fall zahlreichen neuen Formen des gemeindlichen Lebens zuständig zu sein, kennzeichnet den Pfarrberuf seit gut fünfzig Jahren. In Kirchen, die über die entsprechenden Ressourcen verfügen, wird dieses Nebeneinander und Zugleich zu einem gewissen Grad durch die Schaffung von Funktionspfarrstellen gemildert. Aber auch dieser Weg scheint sich angesichts drohender Ressourcenknappheit immer häufiger nicht länger weiterführen zu lassen. In anderen Kirchen ist diese Ausdifferenzierung noch gar nicht so deutlich umgesetzt, sodass sich die alte parochiale Versorgungskirche mit vergleichsweise geringen Ressourcen vorerst noch weiterführen lässt. Zwischen diesen beiden Polen bewegt man sich, wenn man etwa eine Gemeinde in der Ostslowakei mit einer in Frankfurt am Main vergleicht und dazwischen einen Blick auf das Kirchspiel in der Dresdner Neustadt wirft. Was ist das Modell für die Zukunft? Die Verlockung, das Althergebrachte könnte sich wieder als das Zukunftsträchtige erweisen, mag für manche ansprechend sein. Ich halte sie für verführerisch, aber falsch. Die herkömmliche Parochie lebt doch von Voraussetzungen, die zunehmend weniger gelten. Die Einheit von Wohn- und Arbeitsort zerfällt seit Jahrzehnten, die Mobilität der Menschen nimmt zu und vor allem sind die Jüngeren in der Gesellschaft immer weniger bereit, eine lebenslange Mitgliedschaft in einer Institution einzugehen, nur weil ihre Eltern und Großeltern schon Mitglieder dieser Institution gewesen waren. Das ist ein gesamtgesellschaftliches Phänomen, das etwa politische Parteien betrifft, aber auch die zahlreichen Freiwilligenorganisationen, von der Feuerwehr bis zum Fußballverein am Ort. Dies betrifft natürlich auch die Kirchen und Religionsgemeinschaften allgemein. Um es mit einem Schlagwort der Religionssoziologie zu sagen: Die Zugehörigkeit zur Kirche wird in der Optionsgesellschaft vom Schicksal zur Wahl. Aber verstehen Sie mich bitte recht: Die Ortsgemeinde hat ihren großen, unersetzlichen Wert! Sie wird sogar – davon bin ich überzeugt – in der Zukunft wichtiger werden, als sie es heute vielleicht ist. Wo sonst kommen ganz unterschiedliche Menschen zusammen? Wo sonst sitzen der Universitätsprofessor neben der Pflegerin aus der Slowakei und die Lehrerin an der Höheren Schule (Gymnasium) neben dem Asylwerber aus Afghanistan? Im Gottesdienst der evangelischen Gemeinde ist das der Fall. Und weil der Gottesdienst nicht nur seine bestimmte Zeit braucht, sondern auch den für ihn bestimmten Ort, ist die gottesdienstliche Gemeinde auch als Ortsgemeinde notwendig. Sie konstituiert eine Art von Nachbarschaft, in der Menschen, die sich nicht kennen und sich nicht ausgesucht haben, doch zusammenkommen und dabei voneinander Lebensgeschichtliches erfahren und Gemeinsames entdecken. Christliche Gemeinden als Orte organsierter Nachbarschaft sind nun nicht im luftleeren Raum. Sie brauchen die Verbindung, die Vernetzung mit anderen solchen Orten in ihrem Umfeld und tragen so zum gesellschaftlichen Zusammenhalt bei. Für beide Aspekte gibt es also gute Argumente. Lokal oder funktional, oder Kirche als Institution oder Kirche als Organisation – eines lässt sich nicht gegen das andere ausspielen. Eberhardt Hauschildt spricht sich sogar für ein „hybrides Verständnis der Kirche“ aus, das das Positive beider Aspekte nutzt und produktiv aufeinander bezieht. Wie sich diese beiden Entwicklungslinien, die Fortführung des parochialen Prinzips einerseits und die Wahrnehmung der Ausdifferenzierung kirchlichen Lebens und Arbeitens andererseits, fruchtbringend miteinander verbinden lassen ohne das eine gegen das andere auszuspielen, hat die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern mit dem Prozess „Profil und Konzentration“ versucht.
Einer der wesentlichen Unterschiede zwischen meinem Großvater und meinem Vater und mir bzw. noch viel mehr den heute jungen Pfarrern und Pfarrerinnen liegt wohl nicht in der Arbeitsbelastung. Die war früher hoch und ist es heute auch noch, bestimmt in manchen Fällen auch zu hoch. Gleich geblieben ist auch die tief empfundene Sinnhaftigkeit der eigenen Tätigkeit. Generell hat sich die gesellschaftliche Stellung der Kirche und damit auch des Pfarrers bzw. der Pfarrerin geändert. Den wesentlichen Unterschied sehe ich darin, dass wir erkennen, dass der Pfarrberuf nicht nur fordernd und belastend, erfüllend und beglückend ist, sondern leider auch zu Krankheiten führen kann. Die Symptome wie Stress und Erschöpfungszustände bis hin zum „burn-out“ waren schon länger zu beobachten, empirisch erforscht wurde das Phänomen im deutschsprachigen Raum erstmals mit der Studie von Andreas von Heyl aus dem Jahr 2003. Aus dem englischsprachigen Raum gibt es vergleichbare Studien schon seit den frühen 1960er Jahren. Andreas von Heyl hat die Pfarrerschaft der Evangelisch-Lutherischen Kirche von Bayern erforscht. Die Ergebnisse sind alarmierend. Beinahe die Hälfte (49,5%) galten als burn-out gefährdet. Einige Jahre später (2009) wurde eine vergleichbare Erhebung in der Badischen Kirche durchgeführt, der zufolge 20% der Pfarrer und Pfarrerinnen stressbedingte Gesundheitsstörungen zeigen. Auch das ist ein erschreckend hoher Wert. Weitere Studien in anderen Landeskirchen folgten, das Deutsche Pfarrerblatt hat darüber immer auch berichtet. Andreas von Heyl ist nun nicht bei der Analyse stehen geblieben. In seiner Antrittsvorlesung in Neuendettelsau im Jahr 2004 spricht er von „Salutogenese“. Er versteht diesen Begriff als „Schlüsselbegriff“ in der gegenwärtigen Diskussion zwischen Gesundheitswissenschaft und Praktischer Theologie im Blick auf die kirchlichen Berufe. Einen wichtigen Meilenstein stellte dann das von Andreas von Heyl, Konstanze Kemnitzer und Klaus Raschzok herausgegebene Handbuch „Salutogenese im Raum der Kirche“ aus dem Jahr 2015 dar. „Wie können Pfarrer und Pfarrerinnen mit den jeweiligen Belastungspotentialen so umgehen, dass sie ihre Gesundheit erhalten und weiterhin ‚gut, gerne und wohlbehalten‘ ihren Dienst wahrnehmen?“ So fragt Andreas von Heyl. Mit „gut, gerne und wohlbehalten“ greift er die drei Stichworte auf, unter denen die bayerische Kirche zwischen 2013 und 2016 einen Konsultationsprozess unter ihren Pfarrern und Pfarrerinnen durchgeführt hat. Ein Ergebnis dieses Konsultationsprozesses ist die Handreichung zur Erstellung von Dienstordnungen (in Österreich würde man Amtsaufträge dazu sagen) und die Einrichtung einer eigenen Projektstelle für Salutogenese in der Kirche. Solche Maßnahmen gehören in den Bereich der „enabling conditions“, durch die eine Organisation als ganze, also auch die Kirche, jene Rahmenbedingungen definieren soll, die den einzelnen ein Arbeiten ermöglichen, das die Gesundheit erhält und stärkt, anstatt sie zu gefährden.
Salutogenese ist ein Kunstwort, das der israelisch-amerikanische Medizinsoziologe Aaron Antonovsky 1970 geprägt hat. Er hat die Geschichten von Frauen erforscht, die die Nazi-Konzentrationslager überlebt haben und sich wider alle Erwartung guter Gesundheit erfreuten. Das ließ ihn nach jenen gesundheitsfördernden Ressourcen fragen, die Menschen befähigen, ihre leib-seelische Integrität trotz widrigster Lebensumstände zu bewahren. Dabei hatte er herausgefunden, dass es dabei nicht um einzelne Faktoren geht, sondern um „salus“, um das Heil-Sein und das Leben als Ganzes. Antonovsky spricht dabei von einem „Kohärenzgefühl“. Menschen mit ausgeprägtem Kohärenzgefühl verfügen über eine erhöhte Widerstandskraft gegenüber Stressfaktoren und werden deshalb weniger oft und weniger schwer krank. Mit dem Konzept der Salutogenese sind auch andere Konzepte verwandt, die danach fragen, welche Möglichkeiten Menschen zur Verfügung stehen, um in Krisen zu bestehen oder dem Dauerdruck heutiger Arbeits- und Lebensbedingungen standzuhalten. Ich erwähne das Konzept der Resilienz (Emmy Werner 1977), das der Coping-Strategien (Richard Lazarus 1974), das Konzept der „Hardiness“ (Suzanne C. Kobasa 1982) oder das Konzept der „self-efficacy“ (Albert Bandura 1997).
Aus der großen Zahl miteinander verwandter, aber im Einzelnen doch unterschiedlicher Konzepte kann meiner Meinung nach abgelesen werden, dass jene Kräfte, die in Extremsituationen wie einer KZ-Haft das Überleben ermöglichen, heute unter gänzlich anderen Bedingungen im beruflichen Alltagsleben gebraucht werden. Dass das auch für Pfarrer und Pfarrerinnen wie für andere kirchliche Berufe heiß diskutiert wird, muss nicht überraschen. Bis zu einem gewissen Grad ist der Pfarrer bzw. die Pfarrerin eben nicht „anders“, wie es Manfred Josuttis noch 1982 behaupten konnte.
Natürlich gibt es auch kritische Anfragen an die Konzepte von Salutogenese und Resilienz. Die wichtigste geht davon aus, dass alle diese Konzepte der Stress- und Krisenbewältigung hochgradig individualistisch sind. Der Fokus ist ganz auf individuelle und persönliche Bewältigungsmechanismen und Bewältigungsstrategien von Stress und Überlastung gerichtet. Letztlich ist damit wieder jeder einzelne und jede einzelne selbst dafür verantwortlich, gesundheitlich unbeschädigt durch die Berufsjahre zu kommen und logischerweise selbst daran schuld, wenn das nicht gelingen sollte. Die „Tyrannei des gelingenden Lebens“ wird damit im Berufsbild des Pfarrers und der Pfarrerin in der Selbstwahrnehmung auf die Spitze getrieben. Ob damit dem berechtigten Anliegen wirklich gedient ist, kann dann wohl bezweifelt werden. Hier schließ sich ein Kreis: Dem Stress der Pfarrer und Pfarrerinnen, der auch durch die zunehmende Individualisierung in der Gesellschaft verursacht ist, soll durch individuelle Strategien begegnet werden.
Es ist bestimmt zuerst einmal die Aufgabe der Leitungsverantwortlichen auf allen kirchlichen Ebenen, für entsprechende Rahmenbedingungen für den Pfarrberuf zu sorgen und auch Maßnahmen und Instrumente zur Verfügung zu stellen, die dem Pfarrer und der Pfarrerin ohne deshalb gleich als „krank“ zu gelten, Räume und Zeiten der Erholung, der Reflexion und Spiritualität offen halten. Hier kann sicher noch mehr geschehen, als die Dienstordnungen bisher vorsehen. Allerdings meine ich, dass wir uns hier vor einer möglichen Überregulierung des Pfarrberufes hüten müssen. Der Freiheitsimpuls des Evangeliums kann in der Kirche der Freiheit in glaubwürdiger und professioneller Weise nur von Christen und Christinnen kommuniziert werden, die selbst aus Freiheit und Verantwortung handeln. Aber Spielräume der Freiheit eröffnen – das ist auch für eine Kirchenleitung eine herausfordernde, aber bestimmt schöne Aufgabe. Auch kleinere und finanzschwächere Kirchen werden vermehrt in Personalentwicklung und Beratung, in Coaching und Geistlicher Begleitung investieren und die Freiräume für Pfarrer und Pfarrerinnen vergrößern müssen.
Viel schwieriger zu bearbeiten sind meiner Meinung nach zwei andere Faktoren in diesem Feld, weil sie sich gegen professionelle Methoden der Personalentwicklung sperren bzw. für sie nicht zugänglich sind.
Der eine betrifft die gesamtgesellschaftlichen Veränderungen, die sich eben auch in der Kirche auswirken und die von der Kirche nicht verändert oder außer Kraft gesetzt werden können. Ulrike Wagner-Rau hat hier als erstes die dauernde Verkürzung und gleichzeitige Beschleunigung der Zeit genannt. Längerfristige Planungen und traditionsgebundenes Handeln geraten unter Verdacht und unter Druck. Dauernde Flexibilität und ständiges Einstellen auf Neues und Unerwartetes erzeugen Unsicherheit und Angst. Der Kreativitätsdruck, der auf Pfarrern und Pfarrerinnen lastet, ist enorm und entspricht dem Innovationsdruck in anderen Berufen. Dabei ist doch gerade die Kirche auf Langfristigkeit und Dauer eingerichtet! Herkömmlichkeit meint ja nicht automatisch tote Tradition, sondern entspricht, wenn sie lebendig und lebensnah gestaltet ist, den Erwartungen der Menschen heute. Viele Pfarrer und Pfarrerinnen setzen sich selbst einem enormen Erwartungsdruck aus. Pfarrer und Pfarrerinnen leben also anachronistisch. Sie passen nicht wirklich in die Zeit, denn ihre Zeit steht in Gottes Händen. Wenn von so jemandem verlangt wird, ein professionelles Zeitmanagement zu erstellen, sind Spannungen unausweichlich. Weil mit der Kirche auch der Pfarrberuf von den gesellschaftlichen Veränderungen erfasst wird, stehen beide – Kirche und Pfarrerschaft – in Transformation. Ulrike Wagner-Rau spricht in dem Zusammenhang von der „Schwelle“. Niemand weiß, was morgen sein wird. Nur im Grundsatz können wir uns darauf verständigen, dass „change by design“ besser ist als „change by desaster“, aber alle Schritte in die Zukunft werden fehleranfällig sein und eher einem vorsichtigen Tappen und Tasten entsprechen als einem forschen Ausschreiten. Bedeutungsverlust und Erwartungserhöhung!
Ein Letztes: Es entspricht dem aktuellen Zeitgeist, dass orientierungsstiftende und wertgebundene Inhalte nicht mehr von Organisationen, sondern von Personen plausibel gemacht werden. Martin Luthers kluge und hilfreiche Unterscheidung von Amt und Person ist obsolet geworden. Aber auch heute und in Zukunft geht es um den Auftrag der Kirche, nicht um die persönliche Glaubensmission eines einzelnen im kirchlichen Beruf. Die Verständigung über diesen im Evangelium begründeten Auftrag gerade unter denen, die mit der öffentlichen Kommunikation des Evangeliums als Beruf zu tun haben, ist dringend notwendig. Glaubenskurse in den Gemeinden sind bestimmt sinnvoll, aber eine Verständigung über den Glauben unter den Pfarrern und Pfarrerinnen ist weithin noch ein unbeachtetes Feld, ja manchmal sogar ein Tabu. Dabei könnte es entlastend sein, sich von diesem Auftrag getragen zu wissen und es auch einmal genug sein lassen zu können. „Satis est“, „es ist genug“ – diese Formel aus dem Augsburger Bekenntnis (Artikel 7) lässt sich auch auf den Pfarrberuf übertragen. Wie lässt sich eine Verständigung darüber erreichen, was zu den zentralen Aufgaben im Pfarrberuf gehört und was nicht? Auf dieser grundlage ließe sich auch entscheiden, welche Aufgaben anders organisiert werden und welche vielleicht auch gar nicht länger gemacht werden sollen. Es sind nicht nur die Erwartungen von Gemeinde und Kirchenleitung, die Pfarrer und Pfarrerinnen davon abhalten, es einmal genug sein zu lassen. Nicht selten sind es auch die eigenen Erwartungen in der Ambivalenz von Allmachts- und Ohnmachtsphantasien. „Lass dir an meiner Gnade genügen“, wird dem Apostel Paulus gesagt (2.Kor.12,9). Dieses Genug und dieses Genügen zu finden würde die Kirche evangelischer und den Pfarrberuf menschlicher machen.