2016 Bad Urach (DE)
Heinrich Bedford-Strohm
"Gut, gerne und wohlbehalten!? – Pfarrdienst leben, Kirche und Gesellschaft gestalten"
125-Jahre-Jubiläumspfarrertag in Württemberg am 10.10.16 in Stuttgart
Liebe Schwestern und Brüder, es ist mir eine große Freude, heute hier sein zu dürfen. Jedes Mal, wenn ich vor Pfarrerinnen und Pfarrer spreche, schwingen die Erinnerungen an die Pfarrkonferenzen in meiner Zeit als Gemeindepfarrer mit. Ich habe sehr gute Erinnerungen daran. Auch wenn unsere Versammlung heute eine ziemlich große "Pfarrkonferenz" ist, freue ich mich schon jetzt auf die Begegnung und das Gespräch mit Ihnen als Kolleginnen und Kollegen, für die ich heute nach dem offiziellen Teil auch noch viel Zeit habe. So bin ich sehr gerne heute nach Stuttgart gekommen, um mit Ihnen diesen Pfarrertag zum 125 jährigen Jubiläum zu feiern und gemeinsam darüber nachzudenken, wie wir als Pfarrerinnen und Pfarrer auch heute noch unseren Dienst tun können. Und das nicht irgendwie – atemlos, gehetzt, in dauerhaftem Stress, hinter den eigenen Aufgaben und Ansprüchen hinterherhechelnd und in ständiger Gefahr, auszubrennen, sondern "Gut, gerne und wohlbehalten".
1. Pfarrberuf im Spannungsfeld
Der Pfarrberuf ist in vieler Hinsicht ein wunderbarer Beruf. Das sage ich – auch von meinen eigenen Erfahrungen im Gemeindepfarramt her – trotz aller noch anzusprechenden Problemdiagnosen – mit voller Überzeugung. Aber er ist ein von Ambivalenz geprägter Beruf. Seinen Stärken entsprechen immer auch Gefahren. Die Kunst ist, die Stärken zu leben, ohne den Gefahren zu erliegen. Fünf Ambivalenzen sehe ich: Fünf Ambivalenzen
Der Pfarrberuf ist ein ganzheitlicher Beruf. Es ist etwas wunderbares, bei den uns anvertrauten Menschen alle Stationen des Lebens begleiten zu dürfen, von der Geburt bis zum Tod. Die damit verbundene Gefahr ist die Anforderungsfülle. Denn mit der Ganzheitlichkeit der Begleitung kann schnell auch eine Ganzheitlichkeit der Erreichbarkeitserwartungen einhergehen. Die aber ist nicht lebbar. Der Pfarrberuf ist ein in vieler Hinsicht selbstbestimmter Beruf. Wie wir ihn ausgestalten, entscheiden wir – jenseits eines bestimmten Pflichtkatalogs in vieler Hinsicht selbst. Wir müssen es aber auch selbst entscheiden. Die Strukturlosigkeit kann auch eine Gefahr sein. Die Aufgaben effektiv und kraftangemessen zu erledigen, erfordert ein gesundes Maß an Selbstdisziplin. In den meisten Fällen besteht beim Pfarrberuf eine weitgehende Identität von Arbeits- und Wohnort. Das gemeinsame Mittagessen mit der Familie ist – wenn es möglich ist – ein Privileg. Gleichzeitig enthält die Identität von Arbeits- und Wohnort auch die Gefahr des Verlusts von Privatheit. Nicht jedem gefällt es, sein Leben unter den Augen der Gemeinde zu führen. Die Residenzpflicht ist deswegen in den letzten Jahren unter Druck geraten. Der Pfarrberuf ist wie kaum ein anderer Beruf geprägt von dem Getragensein in einer Gemeinschaft. Wer auf seiner Pfarrstelle beim Einzug etwa vom Posaunenchor der Gemeinde und vielen lieben Menschen empfangen worden ist, weiß, wovon ich spreche. Die Dichte der Beziehungen im Beruf birgt gleichzeitig die Gefahr der Vernachlässigung der eigenen Primärbeziehungen. Die Frage eines Pfarrerskindes ist sicher keine Ausnahme: Warum ist der Papa immer für alle da, nur für uns hat er keine Zeit? Und die Ehepartnerin/der Ehepartner erfährt viele Male schmerzlich, dass der Trauerfall in der konkreten Situation dann doch wichtiger gewesen ist als der vereinbarte gemeinsame freie Abend. Der Pfarrberuf ist in der Regel geprägt von einer Motivation durch innere Identifikation. Man ergreift diesen Beruf, weil sein Anliegen, die gute Botschaft von Jesus Christus weiterzugeben und Menschen auf dieser Basis in ihrem Leben zu begleiten, etwas ist, was aus der ganzen Existenz heraus vertreten wird. Die „Burn Out Gefahr“, die damit verbunden ist, liegt auf der Hand
Diesen letzten Punkt möchte ich noch etwas erläutern: Für das Evangelium brennen – aber nicht ausbrennen
Viele geben alles in ihrem Dienst; manchmal fast bis zur Selbstaufgabe. Sie engagieren sich über die Maßen, weil sie leidenschaftlich für das Evangelium eintreten wollen und für seinen wunderbaren Inhalt, vielleicht auch, weil sie ihre Kirche lieben – Liebe zur Kirche gibt es nicht nur bei den Katholiken! – weil sie alles tun wollen, um die Ausstrahlungskraft der Kirche zu stärken. Und geraten, gerade weil sie sich so engagieren, manchmal an ihre Grenzen oder gehen über sie hinaus. Gerade die, die für das Evangelium brennen, sind in der Gefahr auszubrennen.
"Unser Gott ist ein verzehrend Feuer" – heißt es im Hebräerbrief (12, 29). Dieses Bibelwort – erlauben Sie mir diese persönliche Bemerkung - hing im Arbeitszimmer meines Großvaters, der seinen Pfarrberuf mit großem Einsatz lebte. Er ist im Alter von 34 Jahren an Herzversagen gestorben. Dass ein solch früher Tod in der Ziellinie dieses Bibelwortes steht, kann ich nicht glauben.
Deswegen ist es gut, dass wir gerade im Hinblick auf den Pfarrberuf neu über Salutogenese nachdenken.
Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern hat dafür eine Stelle eingerichtet, die uns schon jetzt sehr gut getan hat. Ziel ist es Burn-out zu verhindern, zur Regeneration der eigenen Kräfte und Quellen beizutragen und die körperliche und seelische Gesundheit zu fördern.
Ebenso klar ist, dass wir nicht nur an den Symptomen arbeiten dürfen, sondern darüber nachdenken müssen, wie wir die Strukturen so gestalten müssen, dass der Pfarrberuf auch in Zukunft lebbar sein kann und Menschen ihn tatsächlich bis zum Ende ihrer Dienstzeit "Gut, gerne und wohlbehalten" ausüben können.
Um hier weiterzudenken, müssen wir zunächst die Veränderungen in der Gesellschaft wahrnehmen, die auch für den Pfarrberuf massive Konsequenzen haben.
2. Pfarrberuf in der modernen individualisierten und pluralisierten Gesellschaft – die Quadratur des Kreises?
Es geht um nicht weniger als angesichts völlig veränderter gesellschaftlicher Bedingungen den Pfarrberuf neu denken und für die Zukunft öffnen. Wir können nicht über das Anforderungsprofil des Pfarrberufs heute reden, ohne die grundlegenden Veränderungen in den Blick zu nehmen, durch die unsere Gesellschaft in den letzten fünf Jahrzehnten gegangen ist. Nur dann wird deutlich, warum die Situation heute nicht mit der in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts zu vergleichen ist und warum es deswegen schlicht unsachgemäß ist, heute die gleichen Erwartungen an den Pfarrberuf anzulegen wie damals, erst recht wie wenig angemessen es ist, wenn die Entwicklung seitdem als Verfallsprozess beschrieben wird.
Zwei Entwicklungen will ich beschreiben: Pluralisierung und Individualisierung. Pluralisierung
Pluralisierung bedeutet, dass nicht mehr von der einen gemeinsamen Grundlage ausgegangen werden kann, von der traditionelle Gemeinschaften lebten und der alles andere untergeordnet wird, seien es die Familienbande, die politische Überzeugung oder die religiöse Orientierung. Die Menschen leben heute in einer Vielzahl unterschiedlicher Gemeinschaften, die alle das Leben mitprägen – von Familie und Nachbarschaft über Kollegenkreis, Vereine, Freunde aus Gegenwart und Vergangenheit bis hin zu den Schulen der Kinder mit all ihren Aktivitäten. Für die Vereine und man kann das Gleiche für die Kirchen und Parteien sagen, ist dies natürlich ein Problem, weil die Menschen heute viel weniger Zeit für jede einzelne Gemeinschaft haben, in denen sie leben.
Diese Vielzahl von Gemeinschaften bildet das Netzwerk, in dem wir leben. Wie zentral diese Pluralisierung für die sozialen Unterstützungsleistungen des Einzelnen heute ist, zeigt eine faszinierende Untersuchung des amerikanischen Soziologen Mark Granovetter, die ich gerne noch ein wenig erläutern möchte.
Granovetter unterscheidet "starke" und "schwache" Beziehungen[i] und weist ihnen jeweils unterschiedliche Funktionen zu. Starke Beziehungen sind die Beziehungen in den Intimgruppen, die traditionell am deutlichsten mit dem Begriff "Gemeinschaft" verbunden waren. Sie vermitteln vorrangig tiefere Gefühle wie Liebe und Geborgenheit, sie verlangen viel Zeit und sind geprägt durch einen hohen Grad von Verbindlichkeit. Schwache Beziehungen sind im Gegensatz zu starken Beziehungen dadurch gekennzeichnet, dass sie weniger zeitaufwendig und mit weniger emotionalem Engagement verbunden sind. Ihre größte Stärke liegt darin, dass sie eher am Rande eines persönlichen Netzwerks angesiedelt sind und deshalb eine Art Brückenfunktion zu anderen Gemeinschaftskontexten erfüllen können. Über schwache Beziehungen entstehen Einstiegsmöglichkeiten in andere soziale Milieus.
Granovetter hat einen interessanten Versuch gemacht. Er hat eine Botschaft in die Gemeinschaft hineingegeben, die hieß: „Ich brauche einen Job, wer kann mir einen Job besorgen?“. Der Soziologe hat dann verfolgt, welche Kreise diese Botschaft zog. Und er hat festgestellt, sie ging durch alle möglichen Gemeinschaften, Weiße, Schwarze, eben alle möglichen Gemeinschaften, sie ging über die schwachen Beziehungen. Und den Job hat am Ende der Mensch bekommen, wegen der schwachen, nicht wegen der starken Beziehungen. Also sagen die Soziologen: Für die „sozialen Unterstützungsleistungen“ im Alltag sind die schwachen Beziehungen heute von besonderer Bedeutung.
Deswegen sage ich: Die schwachen Beziehungen sollte man nicht verdächtigen und nicht immer nur schlecht machen. Auch die schwachen Beziehungen sind sehr wichtige Beziehungen, sie sind Brückenbeziehungen in andere Gemeinschaften hinein und deswegen gerade in einer pluralistischen Gesellschaft besonders wichtig. Man kann es auch etwas salopper sagen: Damit wir uns nicht immer nur im eigenen Saft drehen.
Was heißt das für die Kirche? Wir sollten ja dazu sagen, dass sich Gemeinschaft heute in vielfältigen Formen zeigt. Deswegen ist Pluralisierung keine Verfallserscheinung, sondern eine Konsequenz der Freiheit. Ja zur Pluralisierung zu sagen, heißt für die Kirche, in ganz unterschiedlichen Milieus präsent zu sein. Dafür ist es wichtig, dass wir als Kirche einen neuen Blick auf die Bedeutung der schwachen Beziehungen gewinnen. Wir brauchen Menschen, die sich ganz mit der Gemeinde identifizieren und dort viel Zeit verbringen. Wir brauchen aber auch Menschen, die Brückenbeziehungen in viele andere Milieus haben. Ob es der Fußballverein ist, oder der Literaturkreis, die Clique im Fitnessstudio oder amnesty international, der Gartenbauverein oder der Rotary Club. Es mögen schwache Beziehungen sein, die nur begrenzte Bedeutung für das eigene Leben haben. Aber sie sind wichtig weil sie unserem Gemeinschaftserleben einen breiten Horizont geben.
Die sozialen Internetnetzwerke spielen dabei eine zunehmende Rolle. Sie können auch Ort für die Pflege starker Beziehungen sein – etwa, wenn Vater und Sohn aus unterschiedlichen Kontinenten dort miteinander kommunizieren. Häufig sind die Dialoge auf Facebook unverbindlicher, aber trotzdem für die moderne Form, Gemeinschaft zu leben, nicht irrelevant.
Ich halte fest: Wir brauchen beides. Wir brauchen die schwächeren Beziehungen und wir brauchen natürlich die starken Beziehungen, ganz besonders in der Familie.
All diese Überlegungen zeigen: Pluralisierung bedeutet nicht Abbruch von Gemeinschaft, sondern zunächst nur Veränderung von Gemeinschaft. Individualisierung
Der zweite Aspekt, den ich nennen möchte, ist die Individualisierung. Individualisierung heißt keineswegs, wie manchmal angenommen, automatisch selbstzentrierten Individualismus. Vielmehr heißt Individualisierung zunächst nur, dass die Menschen heute im Prinzip die Freiheit haben, ihr Leben selbst so zu gestalten, wie sie es wollen, anstatt Rollen und Lebenswege vorgegeben zu bekommen. Das Wort von der Bastelbiographie, erfunden von einem Soziologen, ist fast schon in den allgemeinen Sprachschatz übergegangen und bezeichnet den mit Chancen wie Risiken verbundenen Versuch, sein Leben soweit wie möglich selbst zu gestalten.
Das hat natürlich auch Auswirkungen auf den Pfarrberuf. Zum einen für die Existenz der Pfarrleute selbst: Das klassische Modell des Pfarrers mit Pfarrfrau war in der Vergangenheit ein Zwangsmodell. Niemand musste in seiner Ehe über irgendetwas verhandeln. Die Pfarrfrauen hatten ihren Beruf aufzugeben und als zweite unbezahlte Arbeitskraft in der Gemeinde zur Verfügung zu stehen. Dass dahin niemand zurück will, darüber werden wir uns in diesem Kreis einig sein. Aber genauso wichtig ist es, wahrzunehmen, welche zusätzlichen Anforderungen der Freiheitsgewinn mit sich gebracht hat. Wie in jeder anderen von Freiheit geprägten Beziehung muss ein Pfarrer/eine Pfarrerin mit dem Ehepartner heute das Familienarrangement aushandeln: Wer leistet wann wieviel Familienarbeit? Die Mobilitätsmuster müssen ausgehandelt werden: Wer pendelt wie lange, wenn die beruflichen Anwesenheitsanforderungen nicht harmonisiert werden können? Man könnte vieles mehr nennen.
Zum anderen hat die Individualisierung natürlich auch Auswirkungen auf die Möglichkeiten der Gemeindeglieder. Das Engagement zahlloser Ehrenamtlicher in Parteien, Kirchen und Vereinen zeigt, dass solche Individualisierung keineswegs in Egoismus und Vereinzelung führen muss. Aber sie können selbst bei bestem Willen nicht mit dem gleichen Einsatz ausschließlich ihrer Kirchengemeinde zur Verfügung stehen wie das früher der Fall war. Die Schwierigkeit, Menschen als Kandidaten/innen für den Kirchenvorstand zu finden, die sich wirklich sechs Jahre binden können, ist eben nicht nur Ausdruck zurückgehender Kirchenbindung, sondern auch Konsequenz von Individualisierung und Pluralisierung der Gesellschaft insgesamt.
Wer in dieser Hinsicht alten Zeiten nachtrauert, sollte sich die Frage stellen, ob er das Zurückdrehen der Freiheitsgewinne, die mit diesen Veränderungen verbunden waren, wirklich wollen würde. Aber für den Pfarrberuf haben sie natürlich Auswirkungen, die wahrgenommen werden müssen. Das Stichwort „Zielgruppenorientierung“ hat eine völlig neue Bedeutung bekommen. Welche Schwierigkeiten damit verbunden sind, lässt sich am Gottesdienst zeigen.
Konsequente Zielgruppenorientierung hieße: am Samstag die Wochenschlussandacht für die Sonntagsausflügler, am Sonntagmorgen den Gottesdienst für die, die den Braten rechtzeitig in die Röhre schieben müssen, damit er mittags fertig ist. Um 11 Uhr den Gottesdienst für die Bruncher, die einmal in der Woche mit der Familie in Ruhe frühstücken wollen, daneben natürlich Kindergottesdienst und Krabbelgottesdienst für die Kleinen. Um 18 Uhr dann Jugendgottesdienst mit Band und Lightshow. Und eigentlich müsste ja auch noch eine Thomasmesse für die Zweifler gefeiert werden. Und am Valentinstag den Gottesdienst für Verliebte. Und selbst dann hätten wir sicher noch nicht alle Erwartungen der unterschiedlichen Menschen in der modernen pluralistischen Gesellschaft bedient.
Jeder sieht, dass ein solches Anforderungsprofil von niemandem erfüllt werden könnte. Deswegen ist klar: erstens müssen wir uns innerlich erlauben, Menschen etwas schuldig zu bleiben. Und zweitens müssen wir tun, was wir können, um gut mit anderen zusammenzuarbeiten und so die Zielgruppenarbeit regional auf so viele Schultern wie möglich zu verteilen.
3.1 Orientierungspunkte für den Pfarrberuf der Zukunft
Wenn wir nun danach fragen, welche Orientierungspunkte uns helfen können, einen Pfarrberuf ins Auge zu fassen, der auch in der Zukunft lebbar ist, gilt es zu unterscheiden zwischen den Herausforderung für den/die Pfarrer/in und den Herausforderungen für die Kirchenleitung.
3.1. Herausforderung für den/die Pfarrer/in
Das vielleicht Wichtigste ist die geistliche Nahrungszufuhr. Es gilt, Freiräume dafür zu schaffen, um Zugang zu den Regenerationsquellen der eigenen Existenz zu finden. Die Wege dazu können ganz unterschiedlich sein. Aber die zentrale Bedeutung der Sache darf nicht in der Anforderungsflut untergehen. Damit eng verbunden ist die Aufgabe, immer wieder von neuem zu sich selbst und der eigenen Arbeit Distanz gewinnen. Das eigene Handeln muss meditiert und immer wieder selbstkritisch geprüft werden. Manchmal können einem auch anderen Menschen dazu helfen. Die Kommunikation mit den Mitarbeitenden muss gepflegt werden. Die Goldene Regel ist eine gute Grundlage für die Teamarbeit. Sich immer wieder in die Position desjenigen hinein zu versetzen, der an anderer Stelle in der Gemeinde Verantwortung trägt, ist die Voraussetzung dafür. Es ist für mich ein Hoffnungszeichen, dass sich in Bayern Studierende unterschiedlicher kirchlicher Berufe zusammengetan haben, um sich schon bei der Vorbereitung auf ihren Beruf so intensiv miteinander auszutauschen, dass die Zusammenarbeit dann auch später so gut wie möglich ist. Eine möglichst gute Selbstorganisation hilft, Zeitfresser aufzuspüren und das Wichtige vom Unwichtigen zu unterscheiden. Urlaub und freie Tage zu nehmen, ist nicht Ermessenssache, sondern Notwendigkeit. Darin liegt eine wichtige Dimension der Verantwortung für sich, die eigene Familie und auch die Gemeinde.
3.2. Herausforderung für Kirchenleitung
Die Kirchenleitung muss die notwendigen strukturellen Bedingungen schaffen, dass der/die Pfarrer/in die notwendigen Spielräume bekommt. Wichtig ist, dass bei allen Überlegungen zu strukturellen Veränderungen diejenigen, um deren Arbeit es geht, auch selbst beteiligt werden. Ihr in der täglichen Arbeit gewonnenes Expertenwissen ist unverzichtbar. Dienstordnungen können entlasten, indem sie festschreiben, was zum Grunddienst gehört. Was darüber hinausgeht, kann dann auch wirklich gelassen werden. Springerstellen können – soweit personell besetzbar – zur Entlastung von Vakanzvertretungen eingesetzt werden. Durch verbesserte Assistenz im Pfarrbüro und andere Verwaltungsentlastungen kann neue Zeit für den Einsatz in der Seelsorge frei werden. Der Personaleinsatz muss so gut wie möglich den Begabungen und Begrenzungen der Pfarrer/innen entsprechen. Eine angemessene Aktivität zur Personalentwicklung kann Pfarrer/innen helfen, ihre Fähigkeiten und den Berufsweg so gut wie möglich in Übereinstimmung zu bringen. Es muss Möglichkeiten für Schonräume geben, die helfen neue Kraft zu gewinnen (Respiratio). Und um mit Erfahrungen der Kraftlosigkeit präventiv umzugehen, muss es Möglichkeiten von coaching, Supervision und geistlicher Begleitung geben.
4. Schluss
Über all unserem Denken und Handeln, über unseren Erfolgen wie über unserem Scheitern steht der gekreuzigte und auferstandene Christus. Er ist der Eckstein. Er ist das Fundament. Die Kirche steht und fällt nicht mit uns. Christus selbst trägt seine Kirche in allen Veränderungen und Herausforderungen, die uns begegnen.
Wir können uns den Herausforderungen dieser Tage stellen, weil Christus selbst uns zur Seite steht. „Baptismus sum“, ich bin getauft. Und ich bin berufen zum Dienst in der Kirche Jesu Christi. Gerade in den schwierigen Tagen unseres Lebens und unseres Arbeitens ist das eine kraftvolle Vergewisserung. Und sie gibt Mut und Motivation, die Probleme, denen wir begegnen, anzupacken.
Lasst uns das in unserem Dienst nie vergessen: Gott ist bei uns jeden Tag. Und nichts kann uns trennen von der Liebe Gottes, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes und auch keine Bilder, die wir oder andere von den Erfordernissen des Pfarrberufs haben. Nichts kann uns trennen von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn.
Das zu wissen und zu spüren, ist das Wichtigste für unsere Arbeit im Pfarrberuf!
[i] M. Granovetter, The strength of weak ties. A network theory revisited, in: American Journal of Sociology 78 (1973), 1360-1380 (1361).